anima ona, Installation
Fried Ber, Klanginstallation
Jochen Damian Fischer,
Skulptur und Klanginstallation
Davíð Örn Halldórsson, Malerei
Valentin Hennig, Film
Kestas, Skulptur
Schirin Kretschmann, Performance
Angelika Luz
mit Gabriele Lesch, Johanna Vargas, Gesang
Frauke Schlitz, Raumzeichnung
Louis Stiens, Choreografie
mit Jolie Rose Lombardo, Tanz
Stephan Stiens, Gitarre
Erik Sturm, Skulptur
Johannes Vogl, Installation
Erik Sturm, Initiator und Kurator
Carolin Wurzbacher, Kuratorin und Projektleitung
Verena Jendrus, Co-Kuratorin und Projektleitung
Anna Falk, Kuratorische Assistenz
Maria Zamel, Text und Redaktion
Cainelliklaska, Szenografie
Studio Tillack Knöll, Visuelle Identität
Victor S. Brigola, Fotografie, Merz Akademie Stuttgart
Im Zentrum der Stadt Stuttgart befindet sich eine der größten innerstädtischen Baustellen Europas: Stuttgart 21. Seit mehr als 10 Jahren prägen die Arbeiten am neuen Hauptbahnhof maßgeblich das urbane Zentrum der Stadt Stuttgart. Der »Südkopf« ist ein unterirdischer Baustellenabschnitt monumentalen Ausmaßes, der zwischen den Tunnelzufahrten und der neu entstehenden Bahnhofshalle liegt. Für »Solid Transitions« wurde im komplexen Bauprozess ein Zeitfenster herausgearbeitet, indem dieser spätere Transitbereich einmalig öffentlich für geführte Gruppen zugänglich und begehbar gemacht werden kann.
14 Künstler:innen wurden dazu eingeladen, auf diesen besonderen Ort zu reagieren, dessen Bedeutung zu hinterfragen und das Potenzial der architektonischen Dimensionen auszuloten. Als interdisziplinäres Zusammenspiel wird so ein Transformationsprozess angestoßen, der sich im Spannungsverhältnis von konkretem Ort und künstlerischer Interpretation situiert. Mit Licht-, Klang- und Videoinstallationen, Performances, Malerei, Plastischen Arbeiten, Tanz und Musik intervenieren die Künstler:innen temporär und eröffnen so ungewohnte Perspektiven auf die Baustelle.
In Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Cainelliklaska wurde ein szenografisches Konzept entwickelt, welches die künstlerischen Beiträge in einer orchestrierten Abfolge verbindet. Künstlich erzeugte Nebelwolken ziehen durch die ortsspezifische Thermodynamik gen Süden und zeichnen die vorgesehene Laufrichtung der Besucher:innen vor. Die bis zu 700 m reichenden Blickachsen in die Tunnelröhren werden durch den Nebel temporär unterbrochen und die Raumwahrnehmung in ein neues Licht getaucht. Als ephemeres Element betont der Nebel die Flüchtigkeit der gesamten künstlerischen Interventionen im Kontrast zum Langzeitprojekt von Stuttgart 21, da sie lediglich für nur wenige Tage zu betrachten sind. Um diesen Moment zu dokumentieren und im Nachgang einer breiteren Öffentlichkeit erlebbar zu machen, wird »Solid Transitions« filmisch begleitet und zu einer eigenständigen künstlerischen Videoarbeit der beteiligten Künstler:innen weiterentwickelt.
Wir möchten uns bei allen mitwirkenden Künstler:innen für Ihre herausragenden Beiträge und ihre intensive Auseinandersetzung mit diesem speziellen Ort herzlich bedanken. Unser Dank gilt ebenso unserer Co-Kuratorin Verena Jendrus und dem gesamten Team für ihren grenzenlosen Einsatz für »Solid Transitions«. Dieses außergewöhnliche Vorhaben konnte nur durch die wohlwollende Unterstützung der DB sowie der ausführenden Bauunternehmen Züblin und Niersberger sowie der beteiligten Projektpartner:innen zur Umsetzung finden. Im besonderen Maße möchten wir uns zudem beim Kulturamt der Stadt Stuttgart sowie der Wüstenrot Stiftung für die Projektförderung und ideelle Unterstützung bedanken. Ihnen gebührt daher ebenso unser Dank, wie unseren Kooperationspartnern, dem ITS – Infoturm Stuttgart, ohne deren Flankierung eine öffentliche Zugänglichkeit nicht machbar gewesen wäre, sowie der Merz Akademie Stuttgart für Ihre kompetente Fachbegleitung, die für die Dokumentation des Projekts zentral ist.
Erik Sturm,
Künstler und Kurator
Carolin Wurzbacher,
Kunsthistorikerin und Kuratorin

Cainelliklaska
Ausstellungsszenografie
Nebelwolke und Lichtinszenierung
2023, Ausstellungsszenografie

Cainelliklaska sind die Architekten Philipp Burst und Paul Schleith, die gemeinsam in Berlin arbeiten. Beide haben nach dem gemeinsamen Studium an der Universität Stuttgart sowie Studienaufenthalten in Mendrisio, Lausanne und Berlin als Projektleiter bei renommierten Architekturbüros Erfahrungen mit unterschiedlichen Typologien gesammelt. Mit dem Fokus auf Material, Textur und sozio-kultureller Makrostruktur sind Cainelliklaska an Projekten vom Einrichtungsgegenstand bis zur Städteplanung interessiert und beschäftigen sich insbesondere mit kollaborativen und prozessualen Aspekten vom Bauen. Cainelliklaska hat die Szenografie für »Solid Transitions« entwickelt und gemeinsam mit den Kurator:innen die Ausstellungsräume dramaturgisch und konzeptuell gestaltet. Als szenografische Leitidee wird die infrastrukturelle ›Landschaft‹ der Betonhallen mittels künstlicher Wolken lesbar gemacht. Als ephemere Elemente und transformative Objekte machen sie die Thermodynamik in den Ausstellungsräumen sichtbar und spiegeln die Grundstruktur der Aufführungen sowie die Flüchtigkeit der Interventionen im Kontext der Baustelle wider.

anima ona
Installation
Erdbild Stuttgart
2022, Relief aus Geopolymeren, Transformierter Erdaushub der Baustelle Stuttgart 21, 13,8 × 2,6 m
Erdscan
2022, Videoprojektion

anima ona ist ein Designkollektiv, bestehend aus Freia Achenbach und June Fàbregas. Das Duo studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Einem transdisziplinären und kollaborativen Ansatz folgend, entwickeln sie seit 2018 selbstinitiierte Projekte und verwirklichen Auftragsarbeiten, wobei sie sich an der Grenze zwischen Design, Forschung und Kunst bewegen. Ihre vielfältigen Arbeiten eint die Suche nach bisher unausgeschöpften Ressourcen und Möglichkeiten der Wiederverwendung des Materials, der sie durch experimentelle Herangehensweisen und der Auseinandersetzung der kulturellen Bedeutung von Objekten nachkommen. Seit mehr als zwei Jahren beschäftigen sie sich mit der Baustelle »Stuttgart 21« und nutzen die Materialien und Reststoffe als Experimentierfeld für ihre künstlerische Arbeit. Für »Solid Transitions« hat anima ona Erdaushub aus der Baustelle zu Geopolymeren transformiert, einem Material, das als nachhaltige Alternative zu Beton beforscht wird, und als Putz auf Trägermaterial aufgetragen. In Form eines 13,8 m langen Wandreliefs präsentiert sich dieses Materialexperiment als kontrastierendes Gemälde inmitten einer Betonlandschaft und betont die ästhetischen Qualitäten sowie das gestalterische Potenzial dieses Baustoffs. In der Abfolge des Sammelns, Dokumentierens, Digitalisierens, Archivierens und Wiederverwertens verleihen anima ona Materialabfällen neuen Wert und erschaffen mit ihrer Arbeit gleichsam einen Kreislauf, der etablierte Narrative überwindet und alternative Perspektiven auf Objekte und Materialien als dynamische und transformatorische Ressourcen eröffnet.

Fried Ber
Klanginstallation
Vom Tunnel zum Tor
2022 /23, Dreiteilige Installation (Triptychon) mit Klanginstallation, Videoanimation und Aufklebern

Fried Ber stammt aus Ulm und hat in Stuttgart studiert. Er lebt und arbeitet heute in Berlin. Seine Interessen gelten vor allem den Schnittstellen von Privatheit und Öffentlichkeit, Individuum und Masse, der Romantik und den Entfesselungsmechanismen von Nostalgie. Er tritt erstmalig unter dem Pseudonym Fried Ber in Erscheinung. Seine für » Solid Transitions « entworfene Trias gliedert sich in drei verschiedene Rezeptionsebenen:
① Soundaufnahme: Die Spatzen auf der Tonaufnahme finden sich in dieser Jahreszeit jeden Morgen zu Sonnenauf- und Sonnenuntergang in Massen auf einem Baum in einem Berliner Hinterhof ein. Ihr lautstarkes Auftauchen und ihr zügiges Auseinanderstieben erinnert an die Geräuschkulisse auf einem Bahnsteig – Vögel und Menschen zur Rush Hour.
② Videoanimation: Die in Endlosschleife laufende Animation ist auf das Hineinfahren und das Herauskommen der Züge aus den Tunneln der Strecke Stuttgart-Ulm reduziert. Sie ist gleichermaßen das Objekt physischer als auch metaphysischer Betrachtungsweisen: Hier schwarzes Nichts, dort blendende Verheißung.
③ Aufkleber: Vom dunklen Mittelalter in eine strahlende Zukunft – ein Rückblick: Der Zielort vieler in Stuttgart ausfahrender Züge ist Ulm, deren Stadtwappen ein in schwarz und weiß geteiltes Schild ist. Das Wahrzeichen der Stadt ist der Ulmer Spatz. Der Legende nach sahen sich im Mittelalter die Bauherren zu Baubeginn des Ulmer Münsters mit einem scheinbar unlösbaren Dilemma konfrontiert: Die für die Errichtung des gigantischen Bauvorhabens erforderlichen Baumstämme passten nicht durch das zu kleine Stadttor. Beim zufälligen Beobachten eines Spatzen fand ein Arbeiter die rettende Lösung: Der Spatz manövrierte einen für die schmale Öffnung des Nests offensichtlich zu großen Grashalm längs hindurch.

Jochen Damian Fischer
Skulptur und Klanginstallation
Röhre
2022, Beton, Bauschuttrutsche 0,9 × 0,9 × 4,5 m
MRT (Mutual-Resonance-Tunnel)
2022, MRT-Sound und Lichtinstallation 5′22″

Jochen Damian Fischer lebt und arbeitet als freier Künstler in Stuttgart. Er studierte an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und war dort Meisterschüler des Weißenhofprogramms. Seit 2018 ist er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Darstellen und Gestalten der Universität Stuttgart, Fakultät Architektur und Stadtplanung. Jochen Damian Fischer realisierte zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen, erhielt bereits diverse Auszeichnungen und Stipendien und setzte mehrere Projekte im öffentlichen Raum um. Mit Schwerpunkt auf Bildhauerei und Architektur interessiert sich Jochen Damian Fischer in seiner künstlerischen Arbeit für den Aufbruch isolierter Räume und Architekturen des Untergrunds durch Transformationen der Materialität und ihrer herkömmlichen Nutzung. Sein Beitrag für »Solid Transitions« gliedert sich in eine Plastik aus Beton und Schuttrutsche, sowie eine Sound- und Lichtinstallation. Plastik und Installation zitieren die rohe Materialität und die Form der Zugtunnel auf je eigene Weise: Während die Plastik in der Verwendung der röhrenförmigen Schuttrutsche die Architektur des Tunnels aufgreift, setzt die Soundinstallation an den realen Dimensionen des Ausstellungsortes an. Das intensive Geräusch eines MRT-Geräts wird zum Impulsgeber einer Lichtinstallation und überträgt die ursprünglich klaustrophobische Enge eines MRT-Geräts auf die gigantischen Dimensionen der Tunnelröhre.

Davíð Örn Halldórsson
Malerei
Wechselgrößen (Empfindungen)
2022, Dreiteilige Installation mit Werbebanner, Malerei und Slideshow
Cool, Calm and Collected
2022, Mixed Media Malerei auf MDF-Platte, 1,2 × 1,1 m
I Love Me… NOT
2022, Werbebanner der Staatsgalerie mit Porträt von Rembrandt van Rijn, 2,8 × 4,0 m
Das Fenster zum Hof-Serie
2022, Slideshow mit 15 kleinformatigen Malereien auf Papier

Davið Örn Halldórsson lebt und arbeitet in Stuttgart. Er realisierte mehrere Einzelausstellungen und nahm an Gruppenausstellungen in Island und international teil. Er arbeitet mit nicht-traditionellen Malmethoden – malt und sprüht verschiedene Farben auf gefundene Gegenstände als Resultat eines reflexiven Prozesses innerer und äußerer Wahrnehmung. Sein Thema, unabhängig vom Material, ist immer die Malerei selbst, Farbkombinationen, Komposition, Muster und Textur. Die Vielschichtigkeit seiner Werke zeigt sich in den multiplen, intrinsischen Intensitäten, die in seinen Arbeiten zum Ausdruck kommen. Ästhetische Standards fordert er heraus, indem er nicht-komplementäre Farben und Materialien verbindet und ästhetische Normvorstellungen als Resultat dominanter Erzählungen aus Kunstgeschichte und Popkultur sichtbar macht. Im Kontext der Ausstellung präsentiert Davið Örn Halldórsson eine Installation, die auf unterschiedliche Weise Ausdruck seines reflexiven und intuitiven Schaffens in unmittelbarer Nähe der Baustelle sind. Mit » Wechselgrößen « zeigt er, wie die Baustelle mit all ihren Geräuschen und Erscheinungen seine Wahrnehmung beeinflusst. Teil seiner Installation ist das auf einem Werbebanner der Staatsgalerie abgebildete Selbstporträt Rembrandts (1659), an welchem der Künstler täglich auf dem Weg zu seinem Atelier inmitten der Baustelle vorbeiging und in eine Art inneren Dialog trat. Das Banner wurde professionell restauriert und leicht modifiziert. Die 15 kleinformatigen Malereien, die als Slideshow in einen hallenartigen Nebenraum der Tunnelröhren projiziert werden, zeigen die Verschränkung von künstlerischem Prozess und Baustellenatmosphäre als Einflussnahme des Ortes auf die eigene Produktion.

Valentin Hennig
Film
Body Builder
2022, 4K-Video, 16:9, 3′30″

Valentin Hennig lebt als freischaffender Videokünstler und Filmemacher in Stuttgart. Er studierte in Karlsruhe und Stuttgart, wo er 2016 als Meisterschüler des Weißenhofprogramms der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart graduierte. Neben seiner künstlerischen Arbeit interessiert er sich für die Vermittlung von Kunst und Film. Er ist als Dozent der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart sowie als Workshopleiter für das Künstlerhaus Stuttgart und das Kunstmuseum Stuttgart tätig. Hennig erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Sein erster Spielfilm »The Straw that Broke« wurde 2022 mit dem »Prädikat wertvoll« der Deutschen Filmbewertungsstelle FBW ausgezeichnet und für den »Förderpreis Neues Deutsches Kino« nominiert. »Body Builder« wurde in den Rohbauhallen von Stuttgart 21 gedreht. Die Videoarbeit zeigt einen erschöpften Ritter, der Reststoffe und Fundmaterial der Baustelle sammelt und als Ressource für einen neuen Körper nutzt. Die rituell-performative Arbeit stellt humorvoll Fragen nach Unendlichkeit und Vergänglichkeit, und nach den Beziehungen von Material, Raum und Körper.

Kestas
Skulptur
Makrobiom
2022, Pneumatisches Objekt aus PVC-Folie, Gebläse und Steuerung

Kestas (Kestutis Svirnelis) studierte Bildhauerei an der Kunstakademie in Vilnius /Litauen und an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Seine Arbeiten zeigte er in mehreren Gruppen- und Einzelausstellungen u.a. in Vilnius, Berlin, London, Krakau, Miami und New York. 2007 wurde er mit dem DAAD-Preis der Staatlichen Akademie in Stuttgart und 2009 mit dem Atelierstipendium des Künstlerhauses Stuttgart ausgezeichnet. Kestas Arbeit umfasst Plastiken und raumgreifende Installationen unterschiedlichster Materialität, wobei die Umgebung und der Raum bereits Teil des Konzepts sind. Dabei bedient er sich kinetischen Gesetzmäßigkeiten, um diese als Ausgangspunkt für einen Interaktionsprozess zwischen Kunstwerk und Betrachter:innen zu nutzen. Die visuellen Effekte und die Dimensionalität der skulpturalen Installationen ermöglichen auf diese Weise eine Überlagerung verschiedener Perspektiven und Wahrnehmungen. Die in »Solid Transitions« zu sehende raumgreifende kinetische Plastik erstreckt sich auf ca. 20 m entlang der Tunnelröhre. Eine Vielzahl einzelner aufgeblasener Elemente verbinden sich zu einer anthropomorph anmutenden Gesamtstruktur. Die pneumatische Funktionsweise der luftgefüllten Elemente erinnert an die Struktur und Rhythmik des Atmens, wobei die transformatorische Flexibilität der Arbeit durch das Ein- und Auslassen von Luft als fragiler und vulnerabler Gegenentwurf der festen und unnachgiebigen Materialität des Tunnelrohbaus erscheint.

Schirin Kretschmann
Performance
Zickzack
2023, Performance

Schirin Kretschmann lebt und arbeitet in Berlin und München. Seit 2010 lehrt sie als Professorin für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste München. Sie hat zahlreiche Arbeiten für den öffentlichen Raum sowie für internationale Galerien und Institutionen entwickelt und ist vielfach ausgezeichnet worden, u.a. von der Studienstiftung des Deutschen Volkes, der Kunststiftung Baden-Württemberg und der Stiftung Kunstfonds. Ihre ortsspezifischen Arbeiten versteht Schirin Kretschmann als Praxis experimenteller Untersuchungen in einem erweiterten Feld malerischer Grundfragen. Ihre Bildpraxis realisiert sich in einer Markierung von Orten und ästhetischen Handlungsfeldern. Die Materialien und Verfahren, die sie in diese situativen Arbeiten einbringt, sind auf einen Prozess kontinuierlicher Wandlung und Erweiterung ausgelegt. In »Zickzack« fegt ein:e Performer:in entlang der Architektur des Baustellenabschnitts » Südkopf « von Stuttgart 21. Diese Handlung führt sie über die gesamte Ausstellungsdauer kontinuierlich fort, ungeachtet der umgebenden Geschehnisse, bis sie in der Tunnelröhre verschwindet. Mit der Handlung des Fegens wird in die Monumentalität des architektonischen Neubaus eine ebenso alltägliche wie rituelle Tätigkeit eingeführt. Die so erzeugte Situation wirkt in ihrer Zufälligkeit voraussetzungslos. Doch erst durch sie eröffnen sich Erfahrungsmomente, als Teil eines permanenten Aushandlungsprozesses von Realität, den Schirin Kretschmann in der Geste des Fegens aufgreift. Sie überführt diese Handlung in einen neu entstehenden Bild-Raum, der sich mit dem Realraum verschränkt, ohne dass sich genau sagen ließe, wo die Grenze zwischen beiden verläuft.

Angelika Luz mit Gabriele Lesch, Karera Fujita
Gesang
Improvisation
2023, Gesangsperformance

Angelika Luz ist Sängerin, Regisseurin und Performerin. Als Solistin arbeitete sie mit zahlreichen Orchestern und Kammermusikensembles zusammen. Bis 2022 war sie Professorin für Neue Musik / Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und leitete das »Studio für Stimmkunst und neues Musiktheater«. Seit 2022 leitet sie das Sprechensemble der Akademie für gesprochenes Wort in Stuttgart. Als Dramaturgin und Regisseurin hat Luz über 50 meist interdisziplinäre Produktionen erarbeitet, die Musik, Stimme, Szene, Licht, Sprache, Multimedia, Tanz, Düfte und Figurenspiel in Verbindung setzen. Zuletzt arbeitet sie vermehrt als Vokal-Performerin, wobei sie stimmlich in einen Dialog mit künstlerischen Objekten, Bauwerken oder Naturformationen tritt. Karera Fujita studierte Gesang in Nagakute (Japan), Wien und Hamburg. Sie nahm an internationalen Wettbewerben teil und debütierte 2019 in der Erstaufführung des Musiktheaters Simon von Gerhard Stäbler am Schauburg-Theater in München. Seit 2016 studiert sie an der HMDK Stuttgart bei Prof. Angelika Luz und Prof. Cornelis Witthoefft. Mit einer Gesangsperformance in den Rohbauhallen treten die Sängerinnen in einen polyphonen Dialog untereinander und mit der Umgebung. Die Dimensionalität und Monumentalität der Tunnel wird durch die Verwobenheit der Stimmen zum akustischen Erfahrungsraum, der sich in seiner Multiperspektivität als klangliches Experimentier- und Potenzfeld erweist. Raum und Stimmen treten als klangliches Zusammenspiel hervor, in dem Rhythmik, Klang und Architektur als transformative und relationale Affektivitäten erfahrbar werden.

Frauke Schlitz
Raumzeichnung
Notation
2022, Wand- und Deckeninstallation, Dispersion auf Holz

Frauke Schlitz ist bildende Künstlerin. Sie studierte an der UdK Berlin und unterrichtet seit 2000 an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland. Sie realisierte mehrere Einzelausstellungen und nahm an nationalen und internationalen Gruppenausstellungen teil. Sie ist Trägerin zahlreicher internationaler Stipendien und Förderungen und erhielt Residencies u.a. in New York, Seoul, Brooklyn und Rom. Ausgangspunkt der künstlerischen Praxis von Frauke Schlitz ist ihre eigene körperliche Raumerfahrung. Dabei geht sie mit ihren Installationen auf die Architektur des Ortes ein und lässt Entwicklungen zu, durch die Unerwartetes entstehen kann. Der Raum wird zum Experimentierfeld, in welchem Tektonik, Rhythmus, Gleichgewicht und Kontinuität zu Metaphern transformiert werden. Die für » Solid Transitions « entwickelte Installation »Notation« setzt wortwörtlich an Befestigungsschienen an, die für den Bauprozess notwendig sind. Die baulich bedingten, in die Wände und Decken der Tunnelröhre eingelassenen Schienen betont Frauke Schlitz mit farbigen Leisten, die sie intarsienähnlich positioniert. Es ergibt sich eine Partitur, welche die Rhythmik der Schienen aufnimmt, um sie gleichermaßen zu einer eigenen Raumzeichnung weiterzuführen. Die Funktionalität des Raums wird als Potenzial einer neuen künstlerischen Ordnung befragt.

Louis Stiens, Choreografie
mit Anna Jung, Tanz
Hel / Maria
2022/23, Choreografie: Louis Stiens Tanz: Anne Jung

Louis Stiens absolvierte seine Tanzausbildung an der Heinz-Bosl-Stiftung und an der John Cranko Schule Stuttgart. Bis 2022 war er Mitglied des Stuttgarter Balletts, für das er diverse Stücke choreografierte, darunter »Rausch«, »Qi«, »Skinny«, »Messenger« und gemeinsam mit dem Choreografen Shaked Heller »Ifima«. Abseits klassischer Bühnenformate entwickelte er u.a. Projekte für Galerien und urbane Schauplätze. Zusätzlich erarbeitet er sich ein bildnerisches Werk, das den Tanz ins Medium der Zeichnung übersetzt. Aktuell arbeitet Stiens als frei- schaffender Choreograf. Die Tänzerin Anne Jung begann Ihre Karriere mit Rhythmischer Sportgymnastik. Ihre Tanzausbildung absolvierte sie an der Musikhochschule Köln. Von 2009 bis 2013 war sie Ensemblemitglied von ballettmainz, wechselte 2014 zum Nederlands Dans Theater 1 und war von 2017 bis 2022 Mitglied der Dresden Frankfurt Dance Company. Seit 2016 arbeitet sie zudem als Choreografin und wurde hierfür mit dem Dysart Award ausgezeichnet. Neben zahlreichen Stipendien und Preisen wurde sie zuletzt für den „Benois de la Danse 2020/2021“ nominiert. Die Choreografie » Hel / Maria « bezieht sich auf ein Tanzsolo aus dem Film »Metropolis« von Fritz Lang (1927). Im Film tanzt der Android Maria ein laszives Solo. Der Erfinder Marias, Rotwang, wollte ursprünglich seine verstorbene Gattin Hel entwerfen. Aus Rache an dem gewaltvollen Alleinherrscher Metropolis, Fredersen, ändert Rotwang sein Vorhaben und gibt dem Roboter die Gestalt der Revolutionärin Maria. Der Plan gelingt, die menschliche Maria und der Cyborg werden verwechselt und die Stadt versinkt im Chaos, »Hel / Maria« wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wie die mythologische Hel aus dem nordischen Sagenkosmos, empfängt Anne Jung in diesem Solo ihre Gäste am Tor zur Unterwelt. Louis Stiens Choreografie erzählt von Grenzen und Übergängen, jenen Bereichen, die sich als Nicht-Ort beschreiben lassen. Mit der Sprache des tanzenden Körpers werden die Räume erkundet und unter Rückgriff kulturgeschichtlicher Erzählungen hinsichtlich ihres mystischen Potenzials untersucht.

Stephan Stiens
Gitarre
Fundstücke
2023, Musikperformance

Stephan Stiens studierte am Mozarteum in Salzburg und schloss sein Studium mit Auszeichnung ab. Sein Repertoire umfasst die wesentlichen Werke aus allen Epochen sowie zeitgenössische Musik. Er ist Leiter der »Guitar Company« und arbeitet in verschiedenen Projekten mit Schaupieler:innen, Tänzer:innen und Fotograf:innen zusammen, um die solistische Gitarre auch im transdisziplinären Zusammenspiel verschiedener Disziplinen erleb-und erfahrbar zu machen. Als Komponist schrieb er eine Kindermusicalfassung von »Emil und die Detektive« und die Jugendoper »Das Ende der Nacht« nach einem eigenen Libretto. Darüber hinaus komponierte er zahlreiche weitere musikalische Werke, vertonte zeitgenössische Gedichte als Liederzyklus »Jetzt« für Bariton und Gitarre und schrieb die Zwischenmusiken »Hallraum « und »Ins Offene« in Anlehnung an Joseph Haydns »Sieben Letzte Worte«, die auf CD eingespielt wurden. Aktuell arbeitet er an einem Liederzyklus mit dem Titel »Über alle Berge mit alpenländischen Splittern « für Sopran und Gitarre. In den Tunneln und Räumen der Baustelle begibt sich Stephan Stiens mit »Fundstücke« auf eine musikalische Recherche in die Archive seiner akustischen Erfahrungen und stößt dabei auf Klangsedimente, Ablagerungen und Überschreibungen, die er zu neuen Konstellationen und ungewohnten Setzungen zusammenführt. Im Dialog mit dem ihm umgebenden Raum sucht er im Bergwerk der Geschichte seines eigenen Hörens mit den maschinellen Klängen der E-Gitarre und den sanfteren Tönen der Akustik-Gitarre nach Materialien und Fundstücken, die im Kontext und im Wechselspiel zwischen Architektur, Raum und Klang zu unbekannten Formen finden.

Erik Sturm
Skulptur
Bahnhofstor (Detail: Stuttgarter Säule)
2023, Bohrpfahl und Stahlsäule, Fundobjekte der Baustelle Stuttgart 21, ca. 5 × 0,9 m
Stuttgart 21
2016, Verbogener Doppel-T-Stahlträger, Fundobjekt der Baustelle Stuttgart 21, 3,8 × 0,6 × 0,6 cm
Neue Qualität
2019, Drei Vogelnester (Draht, Kabelbinder, Schrauben, Ei, Federn), Fundobjekte der Baustelle Stuttgart 21, ca. 0,3 × 0,3 × 0,2 cm

Der Bildhauer Erik Sturm studierte an der Merz Akademie Stuttgart und der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Im Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit steht die Untersuchung von urbanen Phänomenen. Über lange Zeiträume hinweg setzt er sich mit Materialen und Prozessen auseinander, die Ausdruck menschlichen Handelns und dessen globalen Impetus sind. Sein Vorgehen gleicht einer Art »Gegenwartsarchäologie«. Sein Atelier liegt inmitten der Baustelle Stuttgart 21, deren Spuren, Materialien und Gegenständen er in seiner künstlerischen Arbeit nachgeht. Kooperatives Schaffen und die kollektive Entwicklung transdisziplinärer Ausstellungs- und Projektformate ist Teil seiner künstlerischen Praxis. So war er Co-Initiator des Projektraums »Lotte« und ist Impulsgeber von »Solid Transitions«. Mit den ausgestellten Arbeiten zeigt Erik Sturm drei Werkbeispiele seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit der Baustelle Stuttgart 21. Während das in sich verdrehte Objekt »Stuttgart 21« die enorme Krafteinwirkung eines Bohrers auf einen Stahlträger veranschaulicht, spürt die Arbeit »Neue Qualität« der Anpassungsfähigkeit der Natur an menschgemachte Veränderungen nach. Die auf der Baustelle lebenden Tauben bauen ihre Nester aus Fundmaterial: Draht, Schrauben und Kabelbinder dienen den Tieren als Bausubstanz. Als Ausgangsmaterial von »Bahnhofstor (Detail: Stuttgarter Säule)« dienen Erik Sturm so genannte Bohrpfähle – Stahlbetonsäulen, die entsprechend jahrhundertealter Bautechniken als temporäre Behelfskonstruktion für den Tiefbau genutzt werden. Fragmente dieser tonnenschweren Säulen überführt Sturm in einen neuen Bedeutungszusammenhang, bereitet sie auf, arrangiert sie neu und ergänzt sie. Hierdurch entsteht ein spannungsreiches Assoziationsfeld zum Bauwerk der Säule als kulturhistorisches Artefakt, dessen Deutungsmöglichkeit zeit- und ortsspezifisch ist. Aus diesen Säulenfragmenten möchte der Künstler in naher Zukunft ein Tor entstehen lassen, das im Ensemble mit dem Stuttgarter Löwentor und dem Neckartor eine Trias bildet.

Johannes Vogl
Installation
Drache
2009, Bohrmaschine, Angelrute, Flugdrache, Stahl, 6,0 × 6,0 × 4,0 m

Johannes Vogl studierte Bildende Kunst in Karlsruhe, Wien und Berlin. Er zeigte seine Werke bereits in zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen, so u.a. in Linz, New York und St. Petersburg. In seinen konzeptuell angelegten Arbeiten überschreitet und transformiert er die den Objekten zugeschriebenen Eigenschaften und entwirft auf diese Weise Konstellationen, die mit Erwartungen brechen. Er arbeitet mit unterschiedlichen Materialen und Alltagsgegenständen, die im Kontext und der Anordnung der Arbeiten ihre je eigene Geschichte erzählen, ihren Objektstatuts verlieren. Die kinetische Installation »Drache« besteht aus einer Bohrmaschine, die mit einer langen Angelroute verbunden ist, einer Schnur und einem Kinderdrachen. Der durch die Drehungen der Bohrmaschine aktivierte Drachen zieht seine Kreise in luftiger Höhe über den Betrachter:innen und erinnert an das Spiel eines Kindes. Die kühle Atmosphäre der rauen und betonbasierten Architektur in Verbindung mit der mechanisierten Form des Drachensteigen lassens der Installation, stehen im starkem Kontrast zu dem gleichzeitig ausgelösten, romantisierten Bildes eines spielenden Kindes unter freiem Himmel. Die widernatürliche und ästhetisierte Konstellation thematisiert die bröckelnde Grenze zwischen »Natur« und »Kultur« sowie die damit einhergehenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Bezug auf die Architektur, Technik und Subjektivität.
